Ludolph, Elmar und Reis, Stefan: „Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung. Rechtsgrundlagen und ärztliche Begutachtung“. Karlsruhe (Verlag Versicherungswirtschaft), 6. Auflage, 2022, 212 Seiten, 56,00 Euro, Softcover
Bereits vor zwei Jahren wurde die aktuelle Neuauflage auf den Markt gebracht. Wurde in der vorherigen Auflage noch Rolf Lehmann als Mitautor benannt, bestreitet in der 6. Auflage Rechtsanwalt Dr. Stefan Reis neben Dr. Elmar Ludolph die Ausführungen zum Thema.
Die neue Auflage berücksichtigt die seit der 5. Auflage ergangene Rechtsprechung sowie die noch immer aktuellen Musterbedingungen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GVD), d. h. die AUB 2020. Aufgrund der Unterschiede der einzelnen Tarifgenerationen (z. B. bei den Meldefristen) beinhaltet das Buch im Anhang die unverbindlichen Musterbedingungen AUB 88, AUB 2014 sowie AUB 2020, nicht jedoch die AUB 99, die AUB 2008 sowie die AUB 2010.
Objektive Befunde anstatt Parteivortrag
Gleich das erste Kapitel geht auf die „Aufgabe des Sachverständigen in der privaten Unfallversicherung“ ein, zu denen auch Ludolph selbst gehört[1]. Hierzu schreiben die Autoren einleitend wie folgt:
„Während der Arzt i. d. R. keinen Grund hat, die behaupteten Beschwerden seines Patienten kritisch zu hinterfragen, gilt dies nicht für den ärztlichen Sachverständigen. Seine Feststellungen haben sich in allererster Linie an objektiven Befunden zu orientieren. Diese haben grundsätzlich einen höheren Stellenwert als der Parteivortrag.“[2]
Kapitel 2 der Neuauflage geht ab Seite 3 darauf ein, was im Rahmen der privaten Unfallversicherung versichert ist. Zunächst wird unter Berücksichtigung der dazu ergangenen Rechtsprechung auf den Unfallbegriff eingegangen. Schön ist, dass zumindest am Rande auf die zum Teil geänderte Rechtsprechung zum Thema Eigenbewegungen eingegangen wird[3].
Es folgt ab Seite 9 Kapitel 3 „Kausalität – welche Kausalitätstheorie gilt?“ Im Kern geht es darum, dass eine Kausalität zwischen dem (vermeintlichen) Unfallereignis und der dokumentierten Gesundheitsschädigung bestehen müsse. Dabei seien gänzlich unwahrscheinliche Kausalitätsverläufe unbeachtlich[4].
Herrschende oder alternativlose Meinung?
Kapitel 4 behandelt ab Seite 11 den „Invaliditätsbegriff der privaten Unfallversicherung – Wofür wird geleistet? Wer muss was beweisen?“. Die Autoren thematisieren an dieser Stelle unter anderem die Kritik an den Begriffen „dauernd“ und „Dauer“ und des in den Musterbedingungen hierzu festgeschriebenen Zeitraums von drei Jahren[5]. Das Thema wird in Kapitel 6 erneut aufgegriffen, hier mit dem Hinweis auf eigene Zweifel an der herrschenden Meinung[6]. Daneben wird kurz auf die hierzu einschlägigen österreichischen Musterbedingungen eingegangen[7].
Die Seiten 15 – 17 behandeln die in der Unfallversicherung zu beachtenden Fristen. Zur Frist für die schriftliche ärztliche Feststellung wird auf diverse Urteile verwiesen. Unter anderem heißt es zum Thema wie folgt:
„Die Feststellung muss dem Versicherer nicht innerhalb der Frist zugegangen sein (BGH, Urteil vom 16.12.1967 – Iva ZR 195/86, VersR 1988, 286; OLG Koblenz, Beschluss vom 23.03.2001 – 10 W 88 / 01). Es reicht also, dass die ärztliche Feststellung z. B. in der Patientenakte mit entsprechendem Datum vorliegt.“[8]
Unterschiedliche Fristen
Unter anderem müsse jede „Teilinvalidität“ einzelner Körperteile separat gekennzeichnet sein. Bereits eine geringfügige Überschreitung der vertraglichen Fristen könne zum Ausschluss eines Anspruchs auf eine Versicherungsleistung führen[9]. Der Versicherungsnehmer
„kann deshalb auch nicht einwenden, dass die Invalidität nicht rechtzeitig erkennbar und nicht innerhalb der Frist ärztlich feststellbar gewesen sei. Ein Anspruch auf Invaliditätsleistung besteht selbst bei geringfügiger Fristüberschreitung nicht.“[10]
Die davon zu unterscheidende Frist zur Geltendmachung der Invaliditätsleistung sei eine Ausschlussfrist, „deren Versäumnis entschuldigt werden kann.“[11] Dr. Reis bemerkt dazu, dass dies „eher der Ausnahmefall sein dürfte.“
Auf Seite 30 gehen die Autoren einen kurzen Hinweis auf vielfach deutlich längere Meldefristen bei real existierenden Unfallversicherungstarifen.
Bildgebende Verfahren zwingend erforderlich?
Kapitel 6 ab Seite 19 behandelt das ärztliche Gutachten. Hierbei seien die Erkenntnisse aus der
„eigentlichen Begutachtung“ zu gewinnen „und nicht auf – unzulässige und unwürdige Kontrollbeobachtungen außerhalb der Begutachtungssituation (beim Verlassen der Klinik, beim Einsteigen in den Pkw) […] Es ist ein Zeichen von Befangenheit, von einer grundsätzlichen Voreingenommenheit gegen einen Versicherten, wenn dieser detektivisch außerhalb des Begutachtungstermins beobachtet wird.“[12]
Weiter führen die Autoren unter anderem aus, dass eine Röntgenuntersuchung nur dann verlangt werden darf, wenn keine „weniger belastende Maßnahme“ wie z. B. eine Ultraschalluntersuchung in Frage käme. Auch sei zu berücksichtigen, ob die versicherte Person gegebenenfalls unter einer „besonderen Strahlenempfindlichkeit“ leide[13].
Den Autoren zufolge sei bei der Bewertung von Unfallfolgen stets auf einen durchschnittlichen Versicherten abzustellen und nicht etwa bei einem Artisten auf dessen besondere Beweglichkeit[14]. Ausführlich wird auf die Bemessung der Beweglichkeit in einzelnen Gelenken eingegangen und auch darauf, dass diese altersbedingt abnehmend ist[15]. Darüber hinaus seien neue Therapiemethoden zu beachten:
„Aus Meniskusverletzungen bspw. wird heutzutage in aller Regel keine Invalidität mehr resultieren.“[16]
Mehrwert der Fristenverlängerung für die Neubemessung
Hingewiesen wird darauf, dass sich die meisten Streitigkeiten mit Unfallversicherern nicht auf die Neubemessung des Invaliditätsgrades, sondern vielmehr auf die Erstbemessung beziehen[17]. Dabei gelte:
„Später gewonnene Erkenntnisse / Befunde sind also nur dann zu berücksichtigen, wenn sie zum maßgeblichen Bemessungszeitpunkt bereits objektiv vorhanden, wenngleich z. B. bildtechnisch noch nicht erfasst waren.“[18]
Positiv ist der erneute Verweis auf abweichende Regelungen in den österreichischen Musterbedingungen[19].
Invaliditätsbemessung außerhalb der Gliedertaxe
Das siebte Kapitel beginnt ab Seite 35 und behandelt die „Bemessung von Unfallfolgen nach der Gliedertaxe“. Dabei seien etwa 80 % aller Unfälle in ihren Folgen durch die Gliedertaxe abgedeckt[20]. Grundlegend seien Unfallfolgen stets zunächst an den fest definierten Invaliditätsgraden der Gliedertaxe festzumachen und nur ersatzweise außerhalb der Gliedertaxe[21]. Beispielhaft führen die Autoren anhand eines konkreten Beispielsfalles Folgendes aus:
„Zunächst ist der völlige Funktionsverlust beider Beine (mit jeweils 1 /1 Beinwert = 70 % der Versicherungssumme) zu bemessen. Erst im Anschluss daran sind die sonstigen Unfallfolgen (Blasen- und Mastdarmlähmung, sexuelle Funktionsstörungen etc.) außerhalb der Gliedertaxe zu bemessen. Das erübrigt sich allerdings in diesem – nicht seltenen – Beispielsfall, weil der Invaliditätsgrad für die Folgen eines Unfalls auf 100 % begrenzt ist (§ 7 (2) d) AUB 88, 94, Ziff. 2.1.2.2.4 AUB 99, 2008, 2010, 2014) und sich durch die Funktionsunfähigkeit beider Beine bereits ein Invaliditätsgrad von 140 % ergäbe.“[22]
Verwiesen wird auf Urteile des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 23.5.2006, Az. IV ZR 203/03 bzw. BGH, Urteil vom 14.12.2011, Az. IV ZR 34 / 11), die auf den „Sitz der Schädigung“ abstellen, wobei zu diskutieren sei, inwiefern sich dies auf den „Sitz der Verletzung“ oder den „Sitz der Funktionsausfälle“ beziehe[23].
Gelenkrechtsprechung im Fokus
Die sehr verbraucherfreundliche Rechtsprechung des BGH vom 09.07.2003 (Az. IV ZR 74/02) zur Auslegung der Formulierungen „Arm im Schultergelenk“ bzw. „Hand im Handgelenk“ wird von Ludolph und Reis deutlich kritisiert und ausführlich argumentiert[24].
Kapitel 8 widmet sich der „Bemessung von Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe“. Korrekt wird ausgeführt, dass ein Invaliditätsgrad nicht mit einem Grad der Behinderung (GdB) oder Grad der Schädigung (GdS) gleichzusetzen ist[25]. Den Autoren zufolge sei eine Bemessung außerhalb der Gliedertaxe unabhängig von den in der Gliedertaxe definierten Werten[26]. Unter anderem schreiben sie:
„Die Werte der Gliedertaxe sind ausgesprochen hoch und günstig für den Versicherungsnehmer. Sie weisen keinen Bezug zur Bemessung außerhalb der Gliedertaxe auf.“[27]
„Die Bemessung von Mehrfachverletzungen“ ist das Thema von Kapitel 9 ab Seite 49. Nach den aktuellen Musterbedingungen sind die einzelne Invaliditätsgrade der durch einen Unfall geschädigten Körperteile zu addieren[28].
Vorinvalidität und Mitwirkungsanteil
In Kapitel 10 ab Seite 51 behandeln die Autoren die Folgen einer möglichen Vorinvalidität. Unter anderem führen sie aus:
„So spielen bspw. die Folgen eines früheren Speichenbruchs nur im Falle einer erneuten Verletzung desselben Arms eine Rolle, während sie völlig außer Acht gelassen werden können, wenn der neue Unfall andere Körperteile oder Sinnesorgane betrifft.“[29]
Eingegangen wird auch auf die Situation, wo durch einen Unfall ein Prothesenaustausch erforderlich würde[30]. Die Beweislast für eine mögliche Kürzung des Invaliditätsgrades durch Anrechnung einer Vorinvalidität liege nach § 286 ZPO beim Unfallversicherer[31].
Kapitel 11 setze sich mit den Folgen einer Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen auseinander. Die Autoren benennen hierfür[32] beispielhafte Fälle, bei denen eine solche Kürzung in Betracht kommen könnte In der Praxis würden Sachverständige bei der Bemessung des Mitwirkungsanteils regelmäßig zwischen einem geringfügigen Mitwirkungsanteil (25 % bis 30 %), einem mittelgradigen Mitwirkungsanteil (50 %) sowie einem hochgradigen Mitwirkungsanteil (75 % bis 90 %) ansetzen[33]:
„„Feinere“ Abstufungen täuschen eine Genauigkeit der Schätzung vor, die naturgemäß nicht möglich ist.“[34]
Was ist mit dem Progessionsvorteil?
Hier wäre ggf. ein Hinweis auf die zahlreichen Unfallversicherungstarife wünschenswert gewesen, die eine Kürzung erst ab 30 %, 40 %, 50 % oder sogar 100 % vorsehen. Obwohl das Buch kein Kapitel zum Thema Progressionen enthält, wäre an dieser Stelle ein Hinweis sinnvoll, wonach eine Kürzung des Prozentsatzes vom Invaliditätsgrad dazu führen kann, dass kein Progressionsvorteil mehr besteht.
Wie bei der Vorinvalidität obliege es dem Versicherer gemäß § 286 (1) Satz 1 ZPO, den Vollbeweis für eine mögliche Kürzung des Invaliditätsgrades bzw. Prozentsatzes vom Invaliditätsgrad aufgrund der Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen an den Unfallfolgen zu erbringen[35].
Typische Komplikationen
In Kapitel 12 ab Seite 61 führen Ludolph und Reis zur „Bemessung von Funktionsbeeinträchtigen als Spätfolgen nach Kompartmentsyndrom, Sudeck’scher Dystropie (CRPS), Ostitis und Arthrose“ aus. Zunächst werden die hier benannten Begrifflichkeiten so definiert, dass auch ein medizinischer Laie ein grundlegendes Verständnis hiervon entwickeln kann. So wird unter anderem darüber berichtet, dass eine Ostitis als Knochen(mark)entzündung „eine typische Komplikation nach offenen Brüchen der langen Röhrenknochen“[36] sei. Dabei seien verschiedene Arten der Ostitis wie z. B. die chronisch-rezidivierende Ostitis zu unterscheiden[37].
Ein typischer Unfallfolgeschaden sei die Arthrose[38]. In jedem Fall sei „der Zusammenhang zwischen dem Versicherungsfall und nachfolgenden arthrotischen Veränderungen zu prüfen.“[39]
Vorschüsse und Rentenzahlung
Eine Frage, die in der Vertriebspraxis eine deutlich größere Rolle als die zuvor beschriebenen, rein medizinischen Ausführungen, spielen dürfte, wird in Kapitel 13 unter dem Punkt „Wann wird die Invaliditätsleistung fällig?“ diskutiert. Sieht man von etwaigen Vorschüssen ab, so bestehe grundsätzlich erst dann Anspruch auf die Invaliditätsleistung, wenn ein möglicher Heilungsprozess abschlossen ist bzw. die bedingungsgemäßen Fristen (nach den Musterbedingungen 12 bzw. 15 Monate) erreicht wurde[40].
Kurz angerissen wird das Thema „Unfallrente“. Hier wäre ein Hinweis darauf schön gewesen, wonach diese Leistung am realen Markt mitunter Einschränkungen wie den Wegfall einer verbesserten Gliedertaxe oder ab einem bestimmten Höchstalter aufweisen.
Tagegeld ohne ärztliche Behandlung?
Kapitel 14 ab Seite 71 geht auf „Sonstige Leistungsarten“ ein. Besprochen werden die Übergangsleistung, Tagegeld, Krankenhaustagegeld, Genesungsgeld sowie Todesfallleistung. Interessant an dieser Stelle ist etwa der Hinweis auf den österreichischen Versicherungsmarkt, wo das Tagegeld unabhängig davon bezahlt wird, ob die versicherte Person sich in einer ärztlichen Behandlung befinde[41]. Zum Krankenhaustagegeld, hier nach den deutschen Musterbedingungen, wird wenig überraschend klargestellt:
„Medizinisch notwendig ist ein Krankenhausaufenthalt auch dann nicht, wenn der Versicherte nur deshalb stationär aufgenommen wird, weil keine Möglichkeit zur häuslichen Pflege besteht.“[42]
Anhaltspunkte für eine Invaliditätsbemessung
Auf den Seiten 75 – 96 widmen sich die Autoren in Kapitel 15 den „Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen innerhalb der Gliedertaxe“. Dargestellt werden die von E. Schröter und Elmar Ludolph im Auftrag des Arbeitskreises „Sozialmedizin und Begutachtungsfragen“ der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC) entwickelten Bemessungsempfehlungen im Bereich von Hand und Arm bzw. Zehen, Fuß und Bein. Die den benannten Gremien vorgestellten Vorschläge hätten zu Anregungen geführt, die aufgegriffen worden seien. Die letzte Überprüfung und Aktualisierung der Bemessungsempfehlungen seien dann 2012 und aufgrund ergangener Rechtsprechung erneut 2016 erfolgt. Auch an dieser Stelle im Buch wird die durch den Beschluss des BGH vom 27.09.2017 (Az. IV ZR 511 / 15) indirekt korrigierte Rechtsprechung harsch kritisiert[43]:
„Nachdem die Rechtsprechung zwar nicht direkt, aber indirekt wieder korrigiert worden ist (BGH, Beschluss vom 27.09.2017 – IV ZR 511 / 15, VersR 2018, 345) werden Beeinträchtigungen im Schulterbereich wieder (wie zuvor) nach der Gliedertaxe bemessen. Nicht verschwiegenen werden soll dabei allerdings, dass die Argumentation des BGH weder in medizinischer noch in rechtlicher Hinsicht zu überzeugen vermag.“[44]
Wann trägt der Geschädigte nur subjektiv vor?
Die entwickelten Empfehlungen sollen dem Sachverständigen als Orientierungshilfe dienen[45]. Dabei seien Narben bei der Invaliditätsbemessung in der Regel nicht beachtlich[46]. Ausführlich wird ein Prüfschema zur Ermittlung des konkreten Invaliditätsgrades beschrieben. Dabei wird darauf hingewiesen, dass „schmerzhafte“ Bewegungsstörungen sich stets in objektiven Befunden niederschlagen müssten. Auf rein subjektive Empfindungen komme es nicht an. Hierzu verweisen die Autoren auf eine Reihe von Urteilen[47].
Bei Verletzungen der Finger sei zu beachten, dass „es für das Fühlen und Greifen in besonderem Maße auf die Fingerendglieder ankommt“[48]. Im Zusammenhang mit Schädigungen der Beine gehen die Autoren auch auf den Umstand ein, dass etwaige Prothesen regelmäßig nach gewissen Zeitabläufen zu ersetzen seien. Entsprechend sei ein wiederholter Wechsel bei einem 20jährigen als sicher anzunehmen, bei einer deutlich älteren Person gegebenenfalls nur noch als Möglichkeit[49].
Versicherungsschutz für psychisch bedingte Beschwerden?
Ab Seite 97 widmet sich Kapitel 16 den „Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen außerhalb der Gliedertaxe“. Themen sind hier unter anderem Wirbelbrüche, Bandscheibenverletzungen, Querschnittslähmungen und Rippenfrakturen. Unter anderem wird ausgeführt,
„das die Wirbelsäule häufig der Zielort allein psychisch bedingter Beschwerden ist, von über den Bemessungspunkt hinaus geklagten Beschwerden also nicht auf eine unfallbedingte strukturelle Ursache geschlossen werden kann.“[50]
Kapitel 17 behandelt ab Seite 105 die „Bemessung von Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet“. Unter anderem werden hier Schädel-Hirn-Verletzungen sowie Einschränkungen der Konzentrationsfähigkeit und des Denkvermögens angesprochen[51].
Schäden im Kontext zu betrachten
Die „Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen auf internistischem Gebiet (Herz / Lunge), nach Abdominalverletzungen und auf urologischem Gebiet“ sind Thema von Kapitel 18. Anhand eines Beispiels werden hier u. a. die grundsätzlichen Erwägungen für Beeinträchtigungen der Lungenfunktion benannt[52]. Bei „Unfallfolgen an den Bauchorganen“ seien auch „Unfallfolgen an den Bauchdecken“ zu berücksichtigen[53].
Gerade bei Schäden an inneren Organen bieten mittlerweile viele Unfallversicherer fest definierte Invaliditätsgrade, die unter bestimmten Voraussetzungen einen deutlichen Vorteil gegenüber der Bewertung von Ludolph und Reis bieten dürfte. Diese schreiben u. a. wie folgt:
„Der unfallbedingte Milzverlust hinterlässt bei Erwachsenen nach einer Anpassungsphase von sechs bis zwölf Monaten und bei Kleinkindern nach Erreichen des 7. / 8. Lebensjahres in aller Regel keine objektivierbaren Funktionseinbußen, die eine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit und damit einen Invaliditätsanspruch begründen lassen.“[54]
Zu Gute halten muss man den Autoren das Benennen auch von Ausnahmen wie einer möglicherweise „erhöhten Infektanfälligkeit“[55]. Ausführlicher wird auch auf die Bemessung des Invaliditätsgrades bei Nierenverlust[56], bei Potenzstörungen und Hodenverlust[57] eingegangen. Leider finden sich keine relevanten Ausführungen zu einer möglichen Schädigung auch der Gebärmutter.
Hörverlust analog zu Sehverlust?
Kapitel 19 ab Seite 117 widmet sich den „Bemessungsempfehlungen für Unfallfolgen an den Sinnesorganen“. Aufgrund der verschiedenen Gliedertaxen seit den AUB61 liegen diesem Abschnitt maßgeblich die AUB 88 ff. zu Grunde. Für Personen, die erstmalig durch einen Unfall dazu gezwungen sind, eine Brille oder Kontaktlinsen zu tragen, ergeben sich je nach Grad der Schädigung ein anzurechnender Invaliditätszuschlag von 3 % bzw. 5 %. Diskussionsbedürftiger sei jedoch ein Urteil des BGH (Beschluss vom 30.09.2009, Az. IV ZR 301 / 06), ggf. einen Brillenabschlag zu berücksichtigen, wenn eine versicherte Person unfallbedingt (z. B. wegen Erblindens) keine Sehhilfe mehr tragen muss[58]. Das Kapitel führt Bemessungsgrundlagen nicht nur in Form ausführlicher Erläuterungen, sondern ergänzend auch in diversen Tabellen aus. Berücksichtigung finden dabei u.a. auch mögliche unfallbedingte Doppelbilder oder Störungen der Binokularfunktion[59].
Bei Hörverlust wird unter anderem auf das so genannte „Tonaudiogramm“ eingegangen, das
„besonders dann Bedeutung [habe], wenn dem Probanden die deutsche Sprache nicht hinreichend geläufig ist, sodass das Sprachaudiogramm keine zuverlässigen Aufschlüsse über die Einschränkung des Hörvermögens gibt“.[60]
In Anlehnung an die Rechtsprechung des BGH zum Ausgleich des Sehvermögens durch eine Sehhilfe plädieren die Autoren für eine vergleichbare Auslegung auch bei Fällen von Gehörverlust, der durch eine Hörhilfe ausgeglichen werden könne[61]. Weiter gehen die Autoren unter anderem auf die Themenfelder unfallbedingte Ohrgeräusche und Schwindelerscheinungen sowie unfallbedingter Verlust des Geruchs und des Geschmacks ein[62].
Auflösung von Schadenrückstellungen freut die Versichertengemeinschaft
Kapitel 20 ab Seite 141 behandelt „Die Bedeutung der unfallbedingten Gesundheitsschädigung für die Bildung von Schadenrückstellungen“. Bei Meldung eines Unfalls können verständlicherweise noch keine exakten Annahmen über die Höhe der zu erwartenden Invaliditätsleistung getroffen werden:
„Denn wenn der Wertermittlung auch zunächst die – hoffentlich zutreffende – Diagnose und die nach dem Regelverlauf zu erwartenden Unfallfolgen zugrunde gelegt werden, so schließt das natürlich nicht aus, dass sich der Schadenfall durch Komplikationen im Heilverlauf oder durch die nicht vorhergesehene Mitwirkung von Krankheiten oder Gebrechen ganz anders entwickelt als ursprünglich angenommen.“[63]
Eine umfangreiche Tabelle[64] soll den mit der Thematik betrauten Personen Unterstützung bei der Ermittlung der zu erwartenden Rückstellungen bieten.
An den Hauptteil des Buches schließen Anhänge mit den unverbindlichen Musterbedingungen des GDV an, zunächst den AUB 88, dann den AUB 2014 und schließlich den AUB 2020. Darauf folgen ein Tabellen‑, ein Abkürzungs- und ein Literaturverzeichnis. Ein Stichwortverzeichnis sowie kurze Informationen zu den beiden Autoren runden das Werk ab. Schön wäre noch der Eintrag für „Hodenverlust“ gewesen[65].
Fazit: Ein sehr informatives Buch zur Bewertung unfallbedingter Invalidität, dass vielfältige Hinweise vor allem für Sachverständige Schadengutachter sowie Mitarbeiter der Schadenabteilungen von Versicherern bietet. Für den durchschnittlichen Vermittler sind weite Strecken der Lektüre zu speziell als dass sie im Vertriebsalltag Verwendung finden dürften. Positiv ist das begründete Hinterfragen auch höchstrichterlicher Rechtsprechung, dies auch dann, wenn man im Einzelfall die Ergebnisse der Kritik nicht immer für positiv halten mag. Das Stichwortverzeichnis ermöglicht in der Regel ein schnelles Auffinden der relevanten Textstellen.
[1] Siehe z. B. Büchner, Jörg „Landgericht Köln: Der Antrag, den vom Amtsgericht Köln ernannten Sachverständigen Dr. Elmar Ludolph wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird für begründet erklärt“ auf ra-buechner.de vom 15.01.2024. Aufzurufen unter https://www.ra-buechner.de/newsarchiv/newsdetail/landgericht-koeln-der-antrag-den-vom-amtsgericht-koeln-ernannten-sachverstaendigen-dr-elmar-ludol.html, zuletzt aufgerufen am 02.10.2024.
[2] Ludolph, Elmar und Reis, Stefan „Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung. Rechtsgrundlagen und ärztliche Begutachtung“. Karlsruhe (Verlag Versicherungswirtschaft), 6. Auflage, 2022, S. 1.
[3] dto., S. 4 – 5.
[4] dto., S. 9.
[5] dto., S. 11.
[6] dto., S. 32.
[7] dto., S. 13.
[8] dto., S. 16.
[9] dto., S. 17.
[10] dto., S. 17.
[11] dto., S. 18.
[12] dto., S. 19.
[13] dto., S. 21.
[14] dto., S. 22.
[15] dto., S. 24.
[16] dto., S. 29.
[17] dto., S. 29.
[18] dto., S. 30.
[19] dto., S. 33 – 34.
[20] dto., S. 48.
[21] dto., S. 35.
[22] dto., S. 35 – 36.
[23] dto., S. 36 – 37.
[24] dto., S. 39 – 46.
[25] dto., S. 47.
[26] dto., S. 48.
[27] dto., S. 48.
[28] dto., S. 49.
[29] dto., S. 52.
[30] dto., S. 52 – 53.
[31] dto., S. 54.
[32] dto., S. 56.
[33] dto., S. 57.
[34] dto., S. 57.
[35] dto., S. 60.
[36] dto., S. 64.
[37] dto, S. 65.
[38] dto., S. 66.
[39] dto., S. 67.
[40] Siehe S. 69 a.a.O.
[41] Ludolph, Elmar und Reis, Stefan „Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung. Rechtsgrundlagen und ärztliche Begutachtung“. Karlsruhe (Verlag Versicherungswirtschaft), 6. Auflage, 2022, S. 72.
[42] dto., S. 73.
[43] dto., S. 75.
[44].dto., S. 75.
[45] dto., S. 75 – 76.
[46] dto., S. 76.
[47] dto., S. 80.
[48] dto., S. 84.
[49] Siehe S. 92 a.a.O.
[50] Ludolph, Elmar und Reis, Stefan „Die Invalidität in der privaten Unfallversicherung. Rechtsgrundlagen und ärztliche Begutachtung“. Karlsruhe (Verlag Versicherungswirtschaft), 6. Auflage, 2022, S. 98.
[51] dto., S. 106 – 107.
[52] dto., S. 110.
[53] dto., S. 111.
[54] dto., S. 112.
[55] dto., S. 112.
[56] dto., S. 112 – 113.
[57] dto., S. 114 – 116.
[58] dto., S. 117 – 118.
[59] dto., S. 127 – 128.
[60] dto., S. 132.
[61] dto., S. 118, 134.
[62] dto., S. 134 – 139.
[63] dto., S. 141.
[64] dto., S. 142 – 144.
[65] dto., S. 115 – 116.