Bie­ten Lebens­ver­si­che­run­gen Ver­si­che­rungs­schutz bei Suizid?

Seit Beginn der Coro­na-Kri­se hat sich die Zahl der Sui­zid­ver­su­che in Deutsch­land stark erhöht. So berich­tet die Ber­li­ner Zei­tung, dass es 2019 in Ber­lin ins­ge­samt drei Ret­tungs­ein­sät­ze wegen Sui­zid­ver­su­chen durch Stran­gu­lie­ren bzw. Erhän­gen gege­ben habe. Per 10.11.2020 sei­en bereits 294 ver­gleich­ba­re Sui­zid­ver­su­che gesche­hen. Der Bei­trag benennt Exper­ten, die typi­sche Moti­ve für den Anstieg von Sui­zi­den begrün­den. Dazu gehö­ren etwa Job­ver­lust oder sozia­le Iso­la­ti­on[1]. Die Psy­cho­the­ra­peu­ten­kam­mer Nord­rhein-West­fa­len weist auf einen engen Zusam­men­hang zwi­schen Depres­sio­nen und dem Risi­ko eines Sui­zid­ver­suchs hin:

Wäh­rend die Sui­zid­ra­te in der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung unter 0,5 Pro­zent liegt, ster­ben durch Sui­zid 2,2 Pro­zent der depres­si­ven Pati­en­ten, die ambu­lant, und vier Pro­zent, die sta­tio­när behan­delt wur­den. Fast jeder zwölf­te depres­si­ve Pati­ent, der auf­grund von Sui­zid­ver­su­chen oder ‑gedan­ken in sta­tio­nä­rer Behand­lung war, stirbt durch Sui­zid.[2]

Fehl­alarm­pa­pier

Bereits im Mai 2020 wies Ste­phan Kohn als Refe­rent im Innen­mi­nis­te­ri­um und von 2007 bis 2011 stell­ver­tre­ten­der Vor­sit­zen­der des Sach­ver­stän­di­gen­ra­tes zur Begut­ach­tung im Gesund­heits­we­sen in sei­nem gele­ak­ten „Fehl­alarm­pa­pier“ (in der gekürz­ten Fas­sung 83 Sei­ten) auf abseh­ba­re „Kol­la­te­ral­schä­den“ hin. Dar­un­ter war auch die War­nung vor einem Anstieg von Suiziden:

Zunah­men von Sui­zi­den (bis­her durchschn. 9.000 pro Jahr); Grün­de für die Zunah­me von Sui­zi­den: lan­ge andau­ern­de erheb­li­che Beein­träch­ti­gung aller Lebens­be­din­gun­gen, die für psy­chisch insta­bi­le Per­sön­lich­kei­ten kri­tisch wer­den kön­nen; aber auch mit zahl­rei­chen Sui­zi­den als Reak­ti­on auf die wirt­schaft­li­che Ver­nich­tung von Exis­ten­zen ist zu rech­nen; diver­se Berufs­grup­pen, die sich ihrer Belas­tung durch die gesell­schaft­li­chen und per­sön­li­chen Ver­än­de­run­gen und ihrer per­sön­li­chen (Mit)Verantwortung nicht gewach­sen füh­len.[3]

Kohn sprach in sei­nem Papier auch das Risi­ko einer stei­gen­den Zahl von Depres­sio­nen an[4]. Inwie­fern damit ein­her­ge­hend auch die Zahl der Sui­zi­de zuneh­men wird, bleibt abzu­war­ten, erscheint aber sta­tis­tisch durch­aus wahrscheinlich. 

Mob­bing einer Schü­le­rin wegen Maskenattest 

Bekannt wur­de ein aktu­el­ler Fall, bei dem eine 11 jäh­ri­ge Schü­le­rin aus Bay­ern, deren Mas­ken­at­test von der Schu­le wie­der­holt nicht akzep­tiert und die als Fol­ge der damit ein­her­ge­hen­den Drang­sa­lie­run­gen in eine Spe­zi­al­kli­nik für Depres­sio­nen ein­ge­wie­sen wur­de[5]. Hier bleibt es zu hof­fen, dass die Schü­le­rin wie­der gesun­den wird und dass die Ver­ant­wort­li­chen für ihr Schick­sal end­lich Ver­ant­wor­tung übernehmen.

Bei Selbst­mord­ge­dan­ken auch an Ange­hö­ri­ge denken

Ins­be­son­de­re, wenn nun der Haupt­ver­die­ner einer Fami­lie Sui­zid bege­hen bzw. einen sol­chen ver­su­chen soll­te, kann dies Ange­hö­ri­ge neben der per­sön­li­chen Trau­er auch wirt­schaft­lich noch wei­ter in den Sog rei­ßen. Hier stellt sich die berech­tig­te Fra­ge, ob denn zumin­dest der hof­fent­lich bestehen­de Ver­si­che­rungs­schutz greift.

Ein Sui­zid­ver­such ist nicht immer erfolg­reich und kann viel­fach eine vor­über­ge­hen­de Arbeits­un­fä­hig­keit zur Fol­ge habe. Hier könn­te Anspruch aus der Kran­ken­ta­ge­geld­ver­si­che­rung bestehen. In den „Mus­ter­be­din­gun­gen 2009 für die Kran­ken­ta­ge­geld­ver­si­che­rung MB/KT 2009“ gibt es einen Aus­schluss nach § 5 Abs. 1

„wegen auf Vor­satz beru­hen­der Krank­hei­ten und Unfäl­le ein­schließ­lich deren Fol­gen sowie wegen Ent­zie­hungs­maß­nah­men ein­schließ­lich Entziehungskuren“. 

Bern­hard Kalis kom­men­tiert hier­zu § 5 MB/KK wie folgt: 

„Beim fehl­ge­schla­ge­nen „ernst­haf­ten“ Sui­zid­ver­such liegt im Hin­blick auf einen ein­tre­ten­de Gesund­heits­stö­rung i.d.R. kein Vor­satz vor. Das Han­deln des Betrof­fe­nen zielt auf Tötung, nicht auf blo­ße Ver­let­zung.“[6]

Ursa­chen für Berufs­un­fä­hig­keit vielfältig

In den „All­ge­mei­nen Bedin­gun­gen für die Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rung“ des GDV mit Stand 14.11.2019 ergibt sich aus § 5 c), dass nur dann Ver­si­che­rungs­schutz für „ver­such­te Selbst­tö­tung“ besteht, wenn nach­ge­wie­sen wer­den kann, 

„dass die ver­si­cher­te Per­son die­se Hand­lun­gen in einem die freie Wil­lens­be­stim­mung aus­schlie­ßen­den Zustand krank­haf­ter Stö­rung der Geis­tes­tä­tig­keit began­gen hat.“ 

Wer also infol­ge von Job­ver­lust oder Depres­si­on vor­sätz­lich selbst ver­sucht, sei­nem Leben ein Ende zu set­zen, wird übli­cher­wei­se nicht bestrebt sein, eine Berufs­un­fä­hig­keit herbeizuführen.

Neu­haus stellt hier­zu in sei­nem Kom­men­tar klar: 

„Der Vor­satz muss sich auf die Her­bei­füh­rung der Berufs­un­fä­hig­keit, nicht nur auf die zugrun­de lie­gen­de Gesund­heits­be­ein­träch­ti­gung rich­ten. Ein Tötungs­vor­satz schließt die­sen Vor­satz nicht not­wen­dig ein. Der Klau­sel­text ist inso­fern lücken­haft.“[7] Bei der Bewer­tung, ob ein Aus­schluss­tat­be­stand greift, sind immer die Umstän­de des Ein­zel­falls zu beach­ten. Als Bei­spiel benennt Neu­haus den „Selbst­tö­tungs­ver­such eines Krebs­pa­ti­en­ten, des­sen Berufs­un­fä­hig­keit, wie er wuss­te, inner­halb weni­ger Wochen mit Sicher­heit zu erwar­ten war.[8]

In die­sem Fall hat sicher der Ver­such der Selbst­tö­tung den Ein­tritt einer ver­si­cher­ten Berufs­un­fä­hig­keit ledig­lich zeit­lich vor­ver­la­gert, so dass der all­ge­mei­ne Grund­satz der Mit­ur­säch­lich­keit hier nicht grei­fen dürf­te[9].

Die Mus­ter­be­din­gun­gen des GDV zur Unfall­ver­si­che­rung (AUB 2014 mit Stand 25.03.2014) spre­chen das The­ma Sui­zid nur indi­rekt an. Da ein Unfall nach Zif­fer 1.3 „ein plötz­lich von außen auf ihren Kör­per wir­ken­des Ereig­nis (Unfall­ereig­nis)“, ist, das „unfrei­wil­lig eine Gesund­heits­schä­di­gung“ zur Fol­ge haben muss, kann aus der Unfall­ver­si­che­rung kein Ver­si­che­rungs­schutz bei ver­such­tem oder voll­ende­tem Sui­zid her­ge­lei­tet wer­den. Pra­xis­be­deu­tung hat die in vie­len Bedin­gungs­wer­ken ver­an­ker­te Pflicht zur Obduk­ti­on eines Ver­stor­be­nen, der mög­li­cher­wei­se einen Unfall­tod nur fin­giert hat. Hier­zu heißt es im Unfall­kom­men­tar von Schu­b­ach / Jann­sen unter ande­rem wie folgt:

Ver­wei­gern die Toten­sor­ge­be­rech­tig­ten die Obduk­ti­on, so ist dies dem gar nicht oder nur nach­ran­gig toten­sor­ge­be­rech­tig­ten Anspruch­stel­ler nicht zuzu­rech­nen. Ist der Anspruchs­be­rech­tig­te hin­ge­gen selbst der erst­ran­gig Toten­sor­ge­be­rech­tig­te, so ist er zur Zustim­mung ver­pflich­tet (BGH VersR 91, 870 = r+s 91, 31; Knapp­mann in Prölss / Mar­tin, § 9 AUB 94, Rn. 18). Ver­wei­gert er die Zustim­mung, so ver­liert er wegen der dar­in lie­gen­den vor­sätz­li­chen Oblie­gen­heits­ver­let­zung sei­nen Anspruch. Zu beach­ten ist aber, dass eine Obduk­ti­on nur dann in Betracht kommt, wenn sie aus ärzt­li­cher Sicht über­haupt zu einem ent­schei­dungs­er­heb­li­chen Beweis­ergeb­nis füh­ren kann und zudem dem Ver­si­che­rer die ein­zi­ge Mög­lich­keit bie­tet, den Beweis der Unfrei­wil­lig­keit zu füh­ren (BGH VersR 92, 730 = r+s 92, 287).[10]

Selbst­tö­tung in Lebens­ver­si­che­run­gen erst ab dem vier­ten Jahr versichert

Weit ver­brei­tet sind Kapi­tal­le­bens­ver­si­che­run­gen. Gemäß „All­ge­mei­ne Bedin­gun­gen für die kapi­tal­bil­den­de Lebens­ver­si­che­rung“ des GDV mit Stand 14.11.2019 gilt nach § 5:

(1) Bei vor­sätz­li­cher Selbst­tö­tung erbrin­gen wir eine für den Todes­fall ver­ein­bar­te Leis­tung, wenn seit Abschluss des Ver­tra­ges drei Jah­re ver­gan­gen sind.

(2) Bei vor­sätz­li­cher Selbst­tö­tung vor Ablauf der Drei­jah­res­frist besteht kein Ver­si­che­rungs­schutz. In die­sem Fall zah­len wir den für den Todes­tag berech­ne­ten Rück­kaufs­wert Ihres Ver­tra­ges (sie­he § 12 Absät­ze 3 bis 6), ohne den dort vor­ge­se­he­nen Abzug.

Wenn uns nach­ge­wie­sen wird, dass sich die ver­si­cher­te Per­son (das ist die Per­son, auf deren Leben die Ver­si­che­rung abge­schlos­sen ist) in einem die freie Wil­lens­be­stim­mung aus­schlie­ßen­den Zustand krank­haf­ter Stö­rung der Geis­tes­tä­tig­keit selbst getö­tet hat, besteht Versicherungsschutz.

Auch für die Risi­ko­le­bens­ver­si­che­rung sowie die fonds­ge­bun­de­ne Lebens­ver­si­che­rung besteht regel­mä­ßig Ver­si­che­rungs­schutz erst nach Ablauf von drei Jah­ren, sieht man von dem oben beschrie­be­nen Aus­nah­me­tat­be­stand ein­mal ab.

Fazit: Wer kurz vor sei­nem Suizid(versuch) noch bestrebt ist, sei­ne Fami­lie abzu­si­chern und sich daher kurz­fris­tig um schein­bar geeig­ne­ten Ver­si­che­rungs­schutz bemüht, dürf­te in der Regel eher das Porte­mon­naie sei­ner Fami­lie zusätz­lich schröp­fen, trägt aber eher nichts dazu bei, die­se tat­säch­lich zu unterstützen.


[1] https://​www​.ber​li​ner​-zei​tung​.de/​n​e​w​s​/​b​e​r​l​i​n​e​r​-​f​e​u​e​r​w​e​h​r​-​z​a​h​l​-​d​e​r​-​e​i​n​s​a​e​t​z​e​-​w​e​g​e​n​-​m​o​e​g​l​i​c​h​e​m​-​s​u​i​z​i​d​e​n​-​s​t​e​i​g​t​-​m​a​s​s​i​v​-​a​n​-​l​i​.​1​1​7​723  (letz­ter Auf­ruf am 06.12.2020 um 11:23 Uhr)

[2] https://​www​.ptk​-nrw​.de/​d​e​/​m​i​t​g​l​i​e​d​e​r​/​p​u​b​l​i​k​a​t​i​o​n​e​n​/​p​t​k​-​n​e​w​s​l​e​t​t​e​r​/​a​r​c​h​i​v​/​p​t​k​-​n​e​w​s​l​e​t​t​e​r​-​s​p​e​z​i​a​l​/​z​a​h​l​e​n​-​f​a​k​t​e​n​-​d​e​p​r​e​s​s​i​o​n​.​h​tml (letz­ter Auf­ruf am 06.12.2020 um 19:32 Uhr)

[3] „KM 4 – 51000/29#2 KM4 Ana­ly­se des Kri­sen­ma­nage­ments (Kurz­fas­sung) “Sei­te 6, Down­load unter https://​www​.bit​ter​lem​mer​.net/​w​p​-​c​o​n​t​e​n​t​/​u​p​l​o​a​d​s​/​2​0​2​0​/​0​5​/​B​M​I​L​E​A​K​_​D​o​k​u​m​e​n​t​9​3​.​pdf (letz­ter Auf­ruf am 06.12.2020 um 11:40 Uhr)

[4] Dto., S. 37

[5] Aus­führ­li­cher sie­he https://​reit​schus​ter​.de/​p​o​s​t​/​e​l​la/

[6] Kalis, Bern­hard „§ 5 MB/KK“ in Bach / Moser „Pri­va­te Kran­ken­ver­si­che­rung. Kom­men­tar zu den MB/KK- und MB/KT“, Hg. Jan Wil­mes. Mün­chen (C.H. Beck), 5. Auf­la­ge, 2015S. 486, Rn. 23

[7] Neu­haus, Kai-Jochen: „Berufs­un­fä­hig­keits­ver­si­che­rung.“ Mün­chen (C.H. Beck), 3. Auf­la­ge, 2014, 658 Rn. 106

[8] Dto., S. 665 Rn. 129

[9] Dto.

[10] Schu­b­ach, Arno und Jann­sen, Gün­ther: „Pri­va­te Unfall­ver­si­che­rung. Kom­men­tar zu den AUB 208 und den §§ 178 ff. VVG“. Mün­chen (C.H. Beck) 2010, S. 57 Rn. 37

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